Bundespräsident Gauck über deutsche Identität

Bundespräsident Joachim Gauck hat sich vor einigen Tagen zu den Themen Identität und positiver Bezugnahme auf das Eigene geäußert:

Der Satz Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, sei so missbraucht, dass er ihn nicht formulieren wolle, meinte Gauck. Aber: Wir können stolz auf unser heutiges Deutschland sein, stolz darauf, was es nach dem Ende von Krieg und Nazi-Zeit geleistet hat. Und das darf man, wenn einem danach ist, auch sagen.

Durch sein Eintreten für die eigene Tradition setzt sich der Bundespräsident positiv von Strömungen ab, die Selbsthaß propagieren. Er bezieht sein Verständnis von Stolz auf das Eigene jedoch ausschließlich auf den früheren Mißbrauch dieses Stolzes sowie deutscher Tradition im Allgemeinen durch den Nationalsozialismus. Er macht dadurch ausgerechnet den NS zum zentralen Bezugspunkt seines eigenen Traditionsverständnisses und vergrößert dadurch ungewollt den Schaden, den der NS deutschen Traditionen zugefügt hat, anstatt dem NS dessen Anspruch auf diese Traditionen zu verweigern.

Gauck folgt zudem einem individualistisch geprägten Verständnis von Nationalstolz, das individuelle Leistungen betont und jene Dimension von Stolz leugnet, die aus Übernahme einer Tradition entsteht und sich auch auf die Leistungen von Vorfahren oder Vorgängern in einer Tradition beziehen kann. Dieses Stolzverständnis hat historisch jedoch in vielen Fällen Bindungen und Verpflichtungen erzeugt, die über Jahrhunderte hinaus positiv wirkten. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, die heute lebenden Deutschen von solchen Traditionen bzw. dem Erbe ihrer Vorfahren abzuschneiden. Auch die Bundesrepublik ist ja nicht in einem historischen Vakuum entstanden, sondern bezog sich bei ihrer Gründung auf eine abendländische Tradition, die bis in die Antike zurückreicht, sowie auf die nationale und demokratische Tradition, die im 19. Jahrhundert zur Entfaltung kam.

Der amerikanische Philosoph Richard Rorty setzte sich in disem Zusammenhang in seinem 1997 erschienenen Werk „Stolz auf unser Land“ kritisch mit dem verkrampften Verhältnis auseinander, das in vielen westlichen Gesellschaften gegenüber der eigenen Tradition und Heimat verbreitet ist. Rorty warnte insbesondere vor den Risiken mangelnden Nationalstolzes:

Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Zuviel Nationalstolz kann Aggressivität und Imperialismus erzeugen, genau wie übermäßiges Selbstgefühl zu Überheblichkeit führen kann. Doch zuwenig Selbstachtung kann den einzelnen daran hindern, moralischen Mut zu zeigen, und ebenso kann mangelnder Nationalstolz eine energische und wirkungsvolle Diskussion über die nationale Politik vereiteln. Eine Gefühlsbindung an das eigene Land – daß Abschnitte seiner Geschichte und die heutige Politik intensive Gefühle der Scham oder glühenden Stolz hervorrufen – ist notwendig, wenn das politische Denken phantasievoll und fruchtbar sein soll. Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt Wer eine Nation dazu bringen möchte, sich anzustrengen, muß ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte. Er muß etwas Anfeuerndes über Episoden und Figuren aus ihrer Vergangenheit sagen, denen sie treu bleiben sollte. Einer Nation müssen Künstler und Intellektuelle Bilder und Geschichten über ihre Vergangenheit erschaffen. Der Wettbewerb um politische Führungspositionen ist zum Teil ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Vorstellungen von der Identität der Nation und verschiedenen Symbolen ihrer Größe.

Jede belastbare und dauerhaft angelegte Gesellschaft muß sich auf Traditionen gründen, die Bindungen unter ihren Angehörigen erzeugen und stärken. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde von den Bürgern eingefordert hatte:

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.

Wer solche für jede Gesellschaft notwendigen Bindungen jedoch auflösen will, greift damit die Grundlagen eines Gemeinwesens an.

Dieser Beitrag wurde unter Auflösungserscheinungen, Herausforderungen abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreiben Sie einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

Gravatar
WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden / Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden / Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden / Ändern )

Google+ Foto

Du kommentierst mit Deinem Google+-Konto. Abmelden / Ändern )

Verbinde mit %s