Günter Rohrmoser: Der Ernstfall

Der Name des „Projekt Ernstfall“ bezieht sich auch auf einen Text des Philosophen Günter Rohrmoser, in dem dieser 1994 unter dem Titel „Der Ernstfall“ eine Reihe konvergierender krisenhafter Entwicklungen in Deutschland beschrieb. Diese würden sich auf einen Punkt zubewegen, an dem sie die Belastbarkeit von Staat und Gesellschaft in absehbarer Zeit überfordern würden, was gravierende Verwerfungen nach sich ziehen werde.

Die Lage spitzt sich zu. Deutschland befindet sich an einem geschichtlichen Wendepunkt. Umkehr oder Niedergang, diese von vielen als fatal empfundene Alternative ist das Gesetz, nach dem alle politischen, moralischen und kulturellen Kräfte um eine Neuorientierung unseres Landes ringen. Die Krisenphänomene, durch die alle Bereiche unseren öffentlichen Lebens bestimmt sind, verdichten sich zu dem Verdacht, daß wir es mit katastrophenträchtigen Entwicklungen zu tun haben könnten […].

Rohrmosers Warnungen haben sich ausnahmslos bestätigt, und die von ihm beschriebenen Entwicklungen seit 1994 häufig noch beschleunigt:

  • Die „Renaissance des islamischen Fundamentalismus“, der Europa „auf den Kampf um seine innere geistige und kulturelle Identität“ zurückwerfen;
  • Das Schwinden der christlich bestimmten kulturellen Substanz, auf der Deutschland und Europa beruhen;
  • Die sich abzeichnende Überforderung des Sozialstaates, dem alleine Deutschland seinen verbliebenen inneren Zusammenhalt verdanke;
  • Die Hegemonie der Weltanschaungen der „neomarxistischen Kulturrevolution der 60er Jahre“ sowie eines „quasitotalitären Liberalismus“, welche Deutschland die Kraft zu einer geistigen Erneuerung rauben und „Züge kultureller und moralischer Dekadenz“ nach sich ziehen würden;
  • Der „Verlust nationaler Identität“, der es begünstige, dass die Antwort auf die sich abzeichnenden Krisen ein bloßer nationaler Populismus anstelle eines gefestigten Konservatismus sein könnte;
  • Die „Krise des Europagedankens“, dessen postmoderne, säkular-zentralistischen Erscheinungsformen den „Traum eines vereinigten, gemeinsam um seine Selbsterhaltung sich mühenden Europa begraben“ könnten;
  • Die Krise der Demokratie, in der die Parteien diesen Tendenzen entweder hilflos gegenüberstehen oder sie aktiv fördern würden, was den „Schatten Weimars auf unser Land“ werfen werde.

Rohrmosers Ansatz, demnach diese Tendenzen durch einen vor allem parteipolitisch organisierten, auf eine geistig-moralische Wende zielenden liberalen Konservatismus aufgehalten und rückgängig gemacht werden könnten, hat sich als unrealistisch erwiesen. Auch die positivsten Entwicklungen, die sich derzeit in der politischen Landschaft abzeichnen, könnten die erwähnten Tendenzen allenfalls verzögern, aber kaum aufhalten, geschweige denn sie umkehren.

Da der von Rohrmoser vorhergesagte Ernstfall zunehmend eintritt und kein Ansatz in Sicht ist der dies noch abwenden könnte, ist dieser Ernstfall in alle Planungen einzubeziehen.

Anders als von Rohrmoser erwartet zeichnet sich dabei aber neben möglichen katastrophalen Entwicklungen auch ein Szenar ab, in dem es einem postdemokratischen Staat oder Gebilde über längere Zeiträume gelingen könnte, das zerfallende Deutschland und Europa relativ stabil, aber mit totalitären Methoden und die Grenze zur Tyrannei überschreitender Durchsetzung der eigenen Ideologie weiterzuverwalten.

Wer eine Fortsetzung abendländischer Kultur in Deutschland und Europa anstrebt, muss somit einen Ansatz finden, der beiden Szenaren gerecht wird und vor allem ihren Eintritt vielleicht sehr lange Zeiträume überstehen könnte. In der Vergangenheit ist dies jedoch keiner rein materielle Ziele anstrebenden oder auf materiellen Interessen beruhenden Zweckgemeinschaft gelungen, während es einige Beispiele dafür gibt, wie auf tieferen und stärkeren Bindungen beruhende Gemeinschaften Jahrhunderte vergleichbarer Bedingungen gut überstanden haben.

Kein Ansatz, der den sich abzeichnenden Herausforderungen gewachsen sein will, kann diese Erkenntnis ignorieren. Noch mehr als familiäre Bindungen waren dabei bei allen betrachteten Beispielen langfristig erfolgreicher Ansätze aber religiöse Bindungen der traditionelleren Art von entscheidender Bedeutung. Dies gilt sowohl für die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft in Osteuropa oder über die Jahrhunderte der arabisch-islamischen Herrschaft über weite Teile Spaniens oder Griechenlands, und es gilt auch für die extremen Verwerfungen, von denen der Untergang des Römischen Reiches begleitet war, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wer einen tragfähigen Ansatz für die Bewältigung der bevorstehenden Lagen sucht, kann vor allem von den Überlebensstrategien religiöser Minderheiten in feindseligen Umgebungen lernen. Zu einer solchen Minderheit werden die kulturtragenden Kräfte Europas in den kommenden Jahrzehnten werden und dabei immer stärker dem Druck einer auf die Auflösung traditioneller Bindungen zielenden aggressiven säkularen Ideologien einerseits und dem Druck eines in Europa zunehmend aggressiv in Erscheinung tretenden Islams andererseits stehen.

Die Auseinandersetzung mit den genannten Überlebensstrategien alleine reicht jedoch nicht aus, denn praktisch umsetzbar sind die gewonnen Erkenntnisse nur für den, der selbst in einer religiösen Bindung steht. Wer den dafür erforderlichen Glauben nicht hat, kann anhand der historischen Beispiele erkennen, dass nichts anderes in den bevorstehenden Zeiten langfristig Bestand haben kann, und sollte in der Lage sein, aus rationalen Erwägungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Schon mancher hat durch die auf diese Weise ausgelösten aufgeschlossenen Auseinandersetzung mit der Religion dann später auch zum Glauben gefunden.

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