Simone Weil: Der Wunsch des Menschen nach Wurzeln

Die in einer jüdischen Familie aufgewachsene, 1943 verstorbene französische Philosophin Simone Weil sympathisierte zeitweise mit dem Kommunismus, wandte sich gegen Ende ihres Lebens aber dem Katholizismus zu. Im Zuge dieser geistigen Entwicklung überwand sie nach und nach ihre früheren Vorstellungen, und in ihrem letzten Werk thematisierte sie den Wunsch des Menschen nach Wurzeln.

Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. …  Der Mensch hat eine Wurzel durch seinen wirklichen, aktiven und natürlichen Anteil am Dasein eines Gemeinwesens, in dem gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Vorahnungen der Zukunft am Leben erhalten werden. Natürlicher Anteil heißt: automatisch gegeben durch den Ort, die Geburt, den Beruf, die Umgebung. Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört. Der Austausch von Einflüssen zwischen sehr verschiedenen Lebensräumen ist nicht weniger unentbehrlich als die Verwurzelung in der natürlichen Umgebung. Aber ein bestimmter Lebensraum darf einen äußeren Einfluss nicht als Beitrag empfangen, sondern als einen Antrieb zur intensiveren Gestaltung seines eigenen Lebens. Er darf sich von äußeren Beiträgen erst dann nähren, wenn er sie verdaut hat…. Die Entwurzelung ist mit Abstand die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaften,

Dem christliche Menschenbild wird von seinen Kritikern zum Teil Naivität oder „Universalismus“ vorgeworfen, weil es natürliche Bindungen des Menschen leugne und zugunsten übergeordneter Bindungen auflösen wolle.  Wo entsprechende Positionen jedoch mit christlichem Bezug vorgebracht werden, handelt es sich um einen Ausdruck außerchristlicher Einflüsse moderner Ideologien.

Das christliche Menschenbild, das auch die Grundlage für den konservativen Realismus bildet, betont hingegen gerade die Bedeutung natürlicher Bindungen (angefangen bei der Familie) und die nicht dem Einfluss des Willens unterworfenen und daher auch gesellschaftlich nicht veränderbaren Eigenschaften menschlicher Identität. So konnte sich auch Simone Weil wie viele andere vor ihr im Zuge ihrer Hinwendung zum Christentum von früheren utopischen Vorstellungen bzgl. des Menschen und seiner Natur trennen.

Eine Besonderheit dieses Menschenbildes ist es, dass es Aspekte von Identität aufeinander bezieht und auf höhere Ziele hinordnet. So beugt dieses Menschenbild den in allen Ideologien der Moderne anzutreffenden Vorstellungen vor, die einzelne Aspekte menschlicher Identität auf Kosten anderer zum Schaden des Menschen überbetonen oder leugnen. Es gilt daher, das christliche Menschenbild und die lange Tradition  seiner philosophischen und naturwissenschaftlichen Begründung als Gegenmittel zu den Auflösungserscheinungen der Gegenwart wiederzuentdecken und unverzerrt zu vermitteln.

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9 Antworten zu Simone Weil: Der Wunsch des Menschen nach Wurzeln

  1. Graurabe schreibt:

    Ich bin auch der Überzeugung, dass allein das Christentum als Kern aller europäischen Identität in der Lage ist, den Verfall aufzuhalten. Eine Frage wird aber nie angegangen: Ist es nach der kopernikanischen Wende, nach Galilei, Aufklärung und Darwin überhaupt noch MÖGLICH, den Europäern ein TRADITIONELLES Christentum nahezubringen ? Funktioniert der Ansatz: „Glaube, weil es gut für deine ethnokulturelle Identität ist“ überhaupt (noch) ? Das Christentum als Monotheismus wurde in seiner vitalen Zeit als WAHRHEIT angesehen, es ist kein passiv-toleranter Buddhismus, sondern durchaus eher mit dem Islam vergleichbar, was die strikte Unduldsamkeit betrifft, auch wenn wir das womöglich nicht wahrhaben wollen und heute eben vieles verwässert ist

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    • Projekt Ernstfall schreibt:

      @Graurabe:
      Die Kommentare sind allgemein wieder im Einzelfreischaltungsmodus, aber das nur als technischer Hinweis vorab.
      Zu Ihrem Kommentar: Der Ansatz „Glaube, weil es gut für deine ethnokulturelle Identität ist“, also ein nationalreligiöser Ansatz in dem die Träger einer Nation Religion für ihre Ziele einsetzen (immer wieder schön: https://www.youtube.com/watch?v=bvouc8Qs_MI) funktioniert nur sehr bedingt. Er kann dazu beitragen, Kulturen zu stabilisieren, schafft aber in der Regel keine neue kulturelle Substanz. Es gibt dazu kulturwissenschaftliche Forschung, auf die noch näher eingegangen werden soll. Ganz kurz als Vorwegnahme: Kulturen entstehen demnach fast immer daraus, dass eine Gruppe von Menschen versucht, eine offenbarte oder geschaute geistige, sakrale Ordnung in soziale Ordnung umzusetzen. Kultur entsteht dabei quasi als Nebenprodukt.
      Während Zweckgemeinschaften durchaus zur Förderung materieller Ziele wie Sicherheit, Wohlstand etc. entstehen können (die Sicherung des eigenen Fortbestandes ist auch ein materielles Ziel ist), entstand offenbar ausnahmslos jede Hochkultur aus einem sakralen Impuls hinaus, der Menschen zu Opfer und Verzicht motivierte, Institutionen begründete, Kunstwerke inspirierte und sogar Völker begründete, weil Religionen auch Fortpflanzungsschranken sind. Wenn man ethnokulturelle Identität will, bekommt man sie demnach nur als Nebenprodukt einer Religion, die zumindest von einer tragenden kulturellen Elite für wahr gehalten wird.
      Da eine neue Religion nicht in Sicht ist und von allen Vorhandenen das Christentum im Wesentlichen in Europa entstanden ist und in seinen fast 2000 Jahren vor Ort Elemente aus fast allen europäischen Kulturen assimiliert hat, hat es rein funktional betrachtet sogar beinahe optimale Voraussetzungen, um europäische Kultur bzw. Kulturen nicht nur weiterhin am Leben zu erhalten, sondern auch zu erneuern.
      Wie Sie aber schon schreiben, besteht die Herausforderung u.a. darin, eine ausreichend starke Trägergruppe davon zu überzeugen, dass das traditionelle Christentum oder zumindest eine Strömung darin tatsächlich wahr ist, vor allem in seinen durchaus nicht nur symbolisch gemeinten Behauptungen über die geistige Welt. Erschwert wird das dadurch, dass schon die Annahme, dass es neben der materiellen auch eine geistige Welt überhaupt gibt, gerade gebildeten Menschen oft als abwegig erscheint.
      Die gute Nachricht ist: Ja, man kann das auch gebildeten Menschen nahebringen, und das sogar viel besser als weniger gebildeten. Es setzt ein wenig Offenheit voraus und eine Sprache, die moderne gebildete Menschen verstehen, aber man kann Reflektionsprozesse auslösen und fördern, die zum Glauben führen, d.h. zur inneren Erfahrung, dass geistige Dinge existieren, die weit über der eigenen Person stehen, und die sehr weitreichende, absolute Forderungen an einen selbst stellen. Islamisten gelingt es mitten in unserer Gesellschaft, solche Prozesse tausendfach auszulösen, wenn auch mit völlig falscher Zielrichtung. Wie das im Detail funktioniert, wird hier gerade auch an besseren Beispielen praktisch untersucht, aber dass es funktioniert habe ich bereits in der Praxis gesehen. Dieser Prozess bringt Menschen hervor, die in erster Linie nach dem Wahren, Guten und Schönen streben und ihm dienen wollen, und die dabei ganz nebenbei Völker und Kulturen schaffen und bewahren.

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  2. Graurabe schreibt:

    Dazu noch kurz, wenn Sie gestatten:

    „Islamisten gelingt es mitten in unserer Gesellschaft, solche Prozesse tausendfach auszulösen, wenn auch mit völlig falscher Zielrichtung“

    Aber ist da nicht gerade etwas ganz anderes der springende Punkt, ein „Aufwind“ etwa, die fast intuitive landnehmerische Zuversicht, die die geburtenstarken herandrängenden Fremden in Europa versprühen und damit teilweise auch Einheimische mitziehen!?

    Das (traditionelle) Christentum hat ja das zusätzliche Problem, FÜR UNS „von gestern“ zu sein. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich finde das ehrlich großartig was Sie machen, ich glaube aber, dass das Christentum allenfalls zur Bildung von „Rückzugsräumen“ für einen Neuanfang in ganz klein taugt, nicht mehr für eine Rettung „des Ganzen“.

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    • Projekt Ernstfall schreibt:

      @Graurabe
      Die Zuversicht, dass ihm die Zukunft gehört, kann das Christentum in Europa derzeit in der Tat kaum glaubwürdig ausstrahlen. Ich vermute, dass man, wenn man glaubwürdig sein will, vorerst nur die Botschaft vermitteln kann, dass es eine große Zukunft haben kann, weil es auch eine große Vergangenheit hatte in der es sich immer wieder erneuert hat. Aber defacto wird es wohl so sein, dass es erst einmal um Rückzugsräume geht, aus denen heraus nicht mehr das Ganze gerettet, aber vielleicht irgendwann etwas Neues aufgebaut werdenn wird. Das wird natürlich nicht das geplante Vorhaben alleine leisten, aber in ganz Europa und auch in den USA gibt es derzeit ähnliche Initiativen mit leicht unterschiedlichen Schwerpunkten, und es gibt auch interessante andere Initiativen. In der Auflistung der geplanten AGs fehlt in dem Zusammenhang noch der Punkt „Netzwerk“.

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  3. ExSA schreibt:

    „………..weil Religionen auch Fortpflanzungsschranken sind. Wenn man ethnokulturelle Identität will, bekommt man sie demnach nur als Nebenprodukt einer Religion……“

    Habe da so meine Zweifel. In Süd- und Mittelamerika hat die christliche Religion jedenfalls die ethnische Identität der eingewanderten Spanier nicht bewahrt. Es gibt sicherlich noch viele weitere Beispiele. Und das zu Zeiten, wo das Christentum noch stark und vital war und nicht, wie heutzutage, nur noch ein müdester Schatten von sich selbst. Kann auch nicht nachvollziehen, warum die christliche Religion das leisten können sollte, ist sie doch schon immer universalistisch gewesen und heute mehr denn je. In früheren Zeiten genügte es Christ zu sein um als Gleicher akzeptiert zu sein, egal ob Eskimo, Indio oder Neger. Heutzutage reicht es ja sogar vollkommen aus „Mensch“ zu sein.

    Umgekehrt meine ich eher, daß die christliche Religion, universalistisch, wie sie nun mal ist, viel öfters Heiratsschranken niedergerissen hat. Man schaue sich beispielsweise nur mal die spanische Geschichte an.

    Das unter bestimmten, europäischen Verhältnissen das scheinbar der Fall war, ist wohl eher mit den besonderen Verhältnissen und nicht mit der christlichen Religion erklärbar.

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    • Morbrecht schreibt:

      @ExSa
      Es gibt universalistische Strömungen im Christentum, wenn man Universalismus als Ideologie definiert, die nur die Zugehörigkeit zur Menschheit als relevant gelten lässt. Zumindest katholische Weltanschauung ist aber nicht universalistisch, sondern subsidiär, d.h. sie geht von einem System sich gegenseitig nicht aufhebender, gleichermaßen wertvoller weil naturnotwendiger Bindungen aus. Es werden hier u.a. Bindungen an eine Familie, eine Nation und einen Glauben unterschieden, wobei Menschen und deren Bindungen (mit Ausnahme der des Glaubens) tatsächlich als prinzipiell gleichwertig betrachtet werden.
      Das ist nicht mit dem modernen Gleichheitsdenken, das Unterschiede leugnet, zu verwechseln. Und auch nicht mit der modernen Gegenposition die dazu neigt, den Wert des Eigenen durch Abwertung des Fremden zu begründen.
      Im katholischen Denken hat der Mensch eine besondere Pflicht die Bindung an seine Vorfahren zu berücksichtigen („Vater und Mutter ehren“), was auch abstrakt gibt, d.h. auf der Ebene von Nationen als Abstammungsgemeinschaften. Gleichzeitig hat er anderen Menschen zuzugestehen, sich gegenüber ihren Vorfahren bzw. Nationen ebenso zu verhalten. Die Spanier haben das im Zuge ihrer Unterwerfungszüge nicht getan und entsprechendes Chaos erzeugt.
      Insgesamt ist das Festhalten an natürlichen Bindungen mit einem katholischen Welt- und Menschenbild zumindest gut vereinbar.

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      • ExSA schreibt:

        @Morbrecht
        Man kann die Wirkungsweise von Systemen oder Strukturen im weitesten Sinne (seien diese nun Maschinen, Organisationen oder eben auch Religionen) auf zwei Arten betrachten:
        1. durch theoretische Untersuchungen zu deren Regeln und Wirkungsweisen und darauf basierend Aussagen zu den erwartbaren Ergebnissen in einem Fall kommen
        2. unabhängig von deren detaillierten, internen Mechanismen sich Ergebnisse bekannter Fälle ansehen und darauf Abschätzungen für andere Fälle zu basieren

        Meine Vorgehensweise war ein Beispiel von 1. und Ihrer ein Beispiel von 2.

        M.E. haben konkrete Ergebnisse mehr Gewicht als theoretische Prognosen. Und eine Strategie auf einer bestenfalls unvollkommenen Theorie zu gründen wäre fahrlässig, wenn Theorie und Praxis unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen.

        Übrigens, habe ich in meinem ersten Kommentar das vielleicht etwas verkürzt geschrieben, aber mit der spanischen Geschichte war nicht die nur die Kolonialgeschichte gemeint, sondern insbesondere auch die (Entstehungs-)Geschichte Spaniens.

        Ursprünglich hatten bekanntlich die Gothen eine strikte Heiratsschranke zu den Bevölkerungsresten des römischen Reiches. Sie wollten Gothen bleiben und eben nicht in der allgemeinen Bevölkerung aufgehen. Im Zuge der Christianisierung wurde diese Heiratsschranke aufgehoben mit dem Ergebnis, daß es heutzutage eben keine Gothen mehr gibt. Der christliche Glaube hat die ethnische Identität der Gothen nicht nur nicht bewahrt, sondern sogar zerstört.

        Ein anderes Beispiel ist, daß nach der Reconquista die Juden zum Christentum zwangskonvertiert wurden. Die Erwartung war, daß sie damit ihre Identität verlieren würden und in den Spaniern aufgehen würden. Das hat natürlich nur teilweise funktioniert. Und es war in den Erfolgsfällen der Identitätswahrung eben kein christliches Verdienst, sondern ein talmudisches. Zumindest die damaligen Christen erwarteten mit der Übernahme der christlichen Religion durch die Juden deren Identitätsverlust und keinesfalls das Gegenteil davon, nämlich die Bewahrung deren Identität. Wieso also heutzutage unter viel schlechteren Umständen christlicher Glaube identitätswahrend unter ethnischen Aspekten wirken soll erschließt sich mir nicht.

        Ich denke die Implikationen sind klar.

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      • Projekt Ernstfall schreibt:

        @ExSA
        Der überaus strenge Spamfilter hatte Ihren interessanten Kommentar erfasst.

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  4. G. Wheat schreibt:

    @ExSa

    Aus wissenschaftlicher Perspektive stimme ich Ihren Beiträgen zu, gar keine Frage. Die praktischen Herausforderungen, besonders im Rahmen dessen, was PE auf die Beine stellen will, müssen Einschnitte hingenommen werden. Die wissenschaftliche Sinnstiftung funktiniert bei Ihnen und bei mir hervorragend, aber man muss besonders im Hinblick auf andere Menschen – und unserem Zeitgeist – davon ausgehen, dass eine sehr kleine Minderheit das notwendige Grundgerüst aus Wissen besitzt, um aus bloßen Fakten heraus degenerative Entwicklungen auch als solche zu betrachten und daraus gleichzeitig eine Grundposition zu ermitteln, die in die Zukunft blickt; Stichworte Erhalt / das Eigene.
    Die grobe Masse der Menschen kann solche Kategorien nur aus emotionaler (Glaube, Gewohnheit, Sozialer Kreis) und individueller Sicht (negative Erfahrungen, Ängste, Vorteile) speisen.
    Wenn man das Christentum in diesem Zusammenhang jedoch mehr als didaktisches Mittel versteht, und weniger als ein „wahrheitstragendes Konstrukt zum Treffen von ultimativ richtigen Entscheidungen“, dann ist das hinnehmbar. Funktioniert natürlich nicht bei jedem Menschen, aber genau das ist der Sinn und Zweck: Mittelvielfalt.

    Denn in der Praxis werden Sie einem ignoranten Menschen die Welt nicht anhand eines Buches über Biologie erklären können, und im Gegensatz dazu, können Sie einem logisch Denkenden nicht mit Bibelzitaten kommen.

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